Noch nie war es so leicht wie heute …“, so Julia von Weiler zum aktuellen Bundeslagebild „Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen“
Wie bewerten Sie die Zahlen des Bundeslageberichts zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen?
Die Zahlen sind erschreckend: Täglich werden in Deutschland 54 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angezeigt. Es ist wichtig zu betonen, dass das nur die Fälle sind, die zur Anzeige gebracht werden. Die Dunkelziffer, also die nicht gemeldeten Fälle, ist viel höher. Es zeigt, dass sexualisierte Gewalt ein Alltagsrisiko für Kinder in Deutschland ist.
Sehen Sie auch Kritikpunkte an den erhobenen Daten?
Ich würde mir ein umfassendes Lagebild zur Situation von Kindern und Jugendlichen wünschen, das auch andere Formen von Gewalt wie Misshandlung oder Vernachlässigung abdeckt. Sexualisierte Gewalt ist ein großes Problem, aber wir dürfen nicht vergessen, dass viele Kinder auch unter anderen Formen von Gewalt leiden.
Gibt es neue Erkenntnisse über Täter oder Täterinnen?
Es bleibt dabei: In fast der Hälfte der Fälle kommen die Täter und Täterinnen aus dem engsten Umfeld des Kindes – und dazu zählt auch der digitale Raum: Familie, Freundeskreis, Schule oder Sportverein, Online-Spiel oder Sozialen Netzwerk. Neu und wichtig ist, dass in diesem Bericht auch weibliche Täterinnen berücksichtigt wurden. Das Thema wird oft übersehen, aber es ist wichtig, dass wir auch hier genau hinsehen.
Spielt das Alter der Täter / Täterinnen eine Rolle?
Ja, der Bericht zeigt, dass 30 % der Tatverdächtigen selbst Jugendliche sind. Das ist ein Anstieg gegenüber früheren Jahren, und das hat viel mit der zunehmenden Nutzung digitaler Medien zu tun. Jugendliche probieren sich aus, überschreiten Grenzen – das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Aber wenn dabei intime Bilder verbreitet werden, ist das bereits ein strafbares Vergehen.
Hier müssen wir genau hinschauen, um Jugendlichen zu helfen, diese Grenzen zu erkennen und ihnen gleichzeitig dabei zu helfen, ihren Weg ins Leben zu finden, ohne kriminell zu werden. Und wir müssen lernen zu erkennen, ob die jugendliche Person bereits strategisches und planvolles – also Täter*innenverhalten – zeigt.
Was sind die besonderen Gefahren des Internets für Kinder und Jugendliche?
Das Internet hat die Situation stark verschärft. Nie war es so leicht für Täter und Täterinnen, Kontakt zu potenziellen Opfern aufzunehmen, sie zu manipulieren und sogar Missbrauch über Livestreams zu begehen. Diese Form der sexualisierten Gewalt hat während der Pandemie stark zugenommen. Kinder können vor der Kamera zu sexuellen Handlungen gedrängt werden, ohne dass der Täter oder die Täterin physisch anwesend ist. Die Zahl dieser Fälle ist seit 2020 dramatisch gestiegen.
Hat sich die Situation im Netz verschärft?
Ja, das Internet wirkt wie ein Brandbeschleuniger für sexualisierte Gewalt. Noch nie war es so einfach, Opfer zu finden und zu manipulieren. Auch die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen ist durch das Internet enorm angestiegen.
Warum sind auch Konsumenten von Kinderpornografie Täter?
Der Gesetzgeber nennt es leider immer noch Kinderpornografie. Kinderschutz-organisationen auf der ganzen Welt sprechen von Missbrauchsdarstellungen. Wer also solche Missbrauchsdarstellungen konsumiert, ist Teil der Gewalt. Diese Menschen schauen sich die Darstellungen von sexualisierter Gewalt an, um sich daran zu erregen. Das ist ein schweres Verbrechen, weil es den Schmerz und das Leid der betroffenen Kinder weiter verstärkt. Viele dieser Bilder kursieren jahrelang im Internet, was die Opfer ständig retraumatisiert.
Was kann getan werden, um Kinder besser zu schützen?
Wir brauchen umfassende Aufklärung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Erwachsene müssen lernen, genau hinzuschauen und bei Verdacht Hilfe zu suchen. Es gibt Anlaufstellen wie das Hilfetelefon Missbrauch (0800 22 55 530 oder https://www.hilfe-telefon-missbrauch.online), wo man Unterstützung bekommen kann. Es ist wichtig, dass wir alle aufmerksam sind und handeln, wenn wir in Sorge um ein Kind sind.
Sind Betroffene sexualisierter Gewalt ein Leben lang traumatisiert?
Sexualisierte Gewalt verändert das Leben eines Kindes unwiederbringlich. Die seelischen und körperlichen Verletzungen sind oft sehr tief. Es braucht viel Unterstützung, damit diese Kinder ihren Weg ins Leben finden und die Wunden heilen können.
Die Wunden können heilen. Die Narben bleiben dennoch Teil des Lebens der Betroffenen.
Sind wir auf einem guten Weg bei der Prävention und Aufklärung?
Die steigenden Anzeigen zeigen, dass Prävention und Intervention teilweise wirken. Die Menschen werden aufmerksamer und melden verdächtige Situationen. Doch viele Taten bleiben im Verborgenen.
Es braucht weiterhin viel Aufklärung und konkrete Maßnahmen, um die Situation zu verbessern. Es bedarf genügend Anlaufstellen wie das Hilfetelefon N.I.N.A. und Fachberatungsstellen, Familien- und Erziehungsberatungsstellen sowie mehr Mitarbeiter in der Schulsozialarbeit. Sie ist häufig der erste Ort, an dem Kinder und Jugendliche Hilfe suchen. Auch Fachkräfte in Jugendeinrichtungen und Sportvereinen sollten in diesem Thema geschult sein. Darüber hinaus bedarf es erheblich mehr Therapieplätze für Kinder und Jugendliche.
In der Strafverfolgung braucht es mehr Ermittler, spezifische Experten und
bessere Technik sowie besseren Datenzugriff. Gleichzeitig sollte man Netzwerkbetreiber endlich mehr für ihre Inhalte in die Verantwortung nehmen.
Damit müssen wir endlich ins Handeln kommen, denn durch KI verschärft sich diese Situation bereits jetzt drastisch