Bundesweite interaktive Fachkonferenz 2024
Gegen sexualisierte Gewalt an tauben und hörbeeinträchtigten Jugendlichen
Wir machen uns stark … #UNDDU?
Kinder und Jugendliche mit Hörbehinderung sowie Taube sind von sexualisierter Gewalt besonders betroffen – ein Thema, das in der Öffentlichkeit bisher kaum diskutiert wird. Mit der zweitägigen Konferenz am 22. und 23. Mai 2024 im Evangelischen Johannesstift in Berlin-Spandau gelang es Innocence in Danger e.V. (IID) und der „Sinneswandel gGmbH, Förderung für gehörlose und hörgeschädigte Menschen“ jedoch, dafür ein breites Publikum zu erreichen. Teilnehmer waren u. a. die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus sowie der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel.
Julia von Weiler, Vorständin von IID: „Es ist verdammt wichtig, dieser Gruppe von besonders Betroffenen eine Stimme zu geben. Das ist uns gelungen. Mein Dank allen, die sich dafür engagieren! Zugleich beschämt und bestürzt es mich, sagen zu müssen: Deutschland ist ein sehr exklusives Land. Von inklusiven Angeboten zum Schutz vor sexualisierter Gewalt sind wir noch meilenweit entfernt.“
Gemeinsam mit dem Träger der Sinneswandel gGmbH hat IID diesen Schwerpunkt des #UNDDU? -Modellprojektes umgesetzt. Die gesamte Maßnahme erfolgte über drei Jahre und wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) mit knapp 1,8 Millionen Euro gefördert. Sie beinhaltet die Entwicklung und Durchführung spezifischer Fortbildungsformate, Aufklärungskampagnen sowie Kreativworkshops. Bisher konnten etwa 1.800 Fachkräfte, Eltern sowie Kinder und Jugendliche erreicht werden. Auf der Konferenz zogen die beiden Partner Bilanz aus der gemeinsamen Arbeit, ihren Erfahrungen und diskutierten mit hochkarätigen Gästen aus Wissenschaft, Politik und Praxis.
Das gesamte Programm erfolgte mit simultaner Übersetzung in Laut- und Gebärdensprache. So konnten sich die über 180 größtenteils tauben und hörbeeinträchtigten Teilnehmenden online und analog zu juristischen Problemen positionieren und zu Fragen der Aufklärung und Intervention mit den Experten in den Diskurs gehen.
Es waren von der ersten Minute zwei beeindruckende Tage:
Schon das Grußwort der unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Kerstin Claus, ist unmissverständlich: „Menschen mit Behinderungen werden nicht ausreichend mitgedacht. Auch nicht in Fragen der Prävention gegen sexualisierte Gewalt. Das belegen deutlich höhere Fallzahlen als bei der Mehrheitsgesellschaft“. Deshalb ist es ihrer Ansicht nach so wichtig, die drängenden Bedarfe sichtbar zu machen und die Partizipation Betroffener mit Blick auf Risikofaktoren voranzutreiben: „Die Gesellschaft ist hier in der Verantwortung, gerade für die spezifisch Gefährdeten mitzudenken. Denn Studien belegen, dass Gehörlose gegenüber sexualisierter Gewalt besonders gefährdet sind. Diese potenzierte Gefahr muss in die Arbeit einbezogen werden: Es ist eine immense Herausforderung für Menschen mit Behinderungen, erlebte sexuelle Gewalt zu kommunizieren und sich Hilfe zu holen. Gerade eingeschränkte kommunikative Fähigkeiten, machen das alles noch erheblich schwerer.“
Ein drängender Schritt wäre eine sofortige Reform des Kinder- und Jugendrechts: „Ein Träger für alle Kinder ist ein zentraler Schritt zur Inklusion. Ohne Schnittstellenverluste müssen Lücken und Hürden endlich abgebaut werden,“ mahnt sie eindringlich. Und weiter: „Wichtig ist auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie dieses #UNDDU?-Projekt: Inklusiv, interaktiv und partizipativ!“
Das Fazit aus ihrem Grußwort erweist sich als Kernbotschaft, die auch in allen folgenden Panels deutlich wird: Inklusion ist kein Ad-on, sondern integraler Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Sie muss von Anfang an mitgedacht werden. Nur so kann es gelingen, Kinder mit in den Schutz aufzunehmen. „Wir müssen besser werden! Heute zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie wichtig die Wahrnehmung der Kommunikation ist“, so von Weiler.
Barrieren abbauen, das ist das große Thema von Stephanie Raith-Kaudelka und der Sinneswandel gGmbH: Mit ihren 200 Mitarbeitenden deckt sie viele Lebensbereiche vor allem von Kindern und Jugendlichen ab: Von der Krippe, einer ganztagsgebundenen Schule, dem Schülerzirkel, bis zum Jugendclub, dem sog. Sprungbrett (Übergang von Schule zu Beruf) und betreutem Einzel-Wohnen, ist Sinneswandel im Jugendbereich breit aufgestellt. Prävention ist hier eine zentrale Aufgabe. Die Partnerschaft mit IID bietet die große Chance, auf diesem Gebiet weitere Expertise zu erwerben, und interdisziplinär zusammenzuarbeiten: „Wir konnten viele wichtige neue Erfahrungen machen. Das Thema sexualisierte Gewalt ist groß in dieser Community: 52% sind davon betroffen, 70% haben sie beobachtet, 67% davon sind Bystander und haben keine Hilfe geleistet. Im Bevölkerungsdurchschnitt sind 13 % aller Frauen – viel zu viel, aber prozentual deutlich weniger betroffen,“ so Raith-Kaudelka. Die Zusammenarbeit mit IID erwies sich für sie als großer Gewinn: „Die Expertise in der professionellen Begleitung hilft bei der eigenen Arbeit genauso wie das spezifisch entwickelte Arbeitsmaterial. Aber auch das umfassende Netzwerk ist unglaublich wichtig. Darauf können wir aufbauen und in unsere Projekte übertragen.“
Rechtsanwältin Mareike Drygalla erörterte im folgenden Panel die Wahrung der Rechte tauber und hörgeschädigter Menschen. Und das scheint alles andere als einfach: Es gibt viel zu wenig allgemeine Informationen über Zugänge in rechtlichen Fragen. Wo kann man beispielsweise Hilfe finden, was kostet ein Anwalt, welche Behörden sind zuständig und welche Anträge sind notwendig und wo erhältlich? „Hier muss der Austausch von Behörden gefördert und die Community besser vernetzt werden“, fordert Drygalla und skizziert das zentrale Problem: „Unsere Schriftsprache und die Sprache der Gehörlosen sind unterschiedlich. Deshalb ist die Angst vor Missverständnissen sehr groß.“
Gewohnt pragmatisch hat Julia von Weiler dazu schon eine Idee: „Sehr hilfreich wäre, dafür eine App „Ich habe Rechte“ für hilfesuchende Menschen zu entwickeln. Mit allen notwenigen Infos angepasst aufbereitet und einem umfassenden Netzwerk unterschiedlichster Kontakte.“
Beim Podium zur psychosozialen Versorgung ist die Problemlage ähnlich: Zu wenig Kenntnis der Bedarfe, mangelnde Kenntnis der deutschen Gebärdensprache (DGS), zu große Versorgungslücken. Das bestätigt Sofia Wegner mit ihrer zwanzigjährigen Erfahrung als Diplom-Psychologin und systemische Familientherapeutin in der Erziehungsberatung und kommunalen Hilfe für Familien mit Gebärdensprache: „Die Grundversorgung im therapeutischen Bereich ist sehr eingeschränkt. Die Bandbreite der Probleme von Babyversorgung über Scheidung, Depressionen bis hin zu Alkoholproblemen ist enorm. Sexualisierte Gewalt ist da eher nebenbei ein Thema.“ Sie weist auf einen drastischen Mangel an Fachkräften mit DGS-Kompetenz hin. Bundesweit gibt es lediglich knapp fünf Therapeutinnen für Kinder und Jugendliche in der Fachberatung mit Gebärdensprache. Ihre Forderung: Aufwertung der DGS, bessere Angebote für Kinder und Förderung von Peerkontakte mit Gleichaltrigen.
Die Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin Esther Lühr von der Fachberatungsstelle Zartbitter e.V. beurteilt die Situation ähnlich: „Die Unterversorgung in der Breite des Landes ist erheblich. Es braucht feste Bestandteile einer Versorgungslandschaft und nicht nur einzelne Leuchttürme. Der Wohnort darf nicht entscheidend sein, ob ein Kind Hilfe bekommt. Vor allem im ländlichen Raum ist die Versorgung schlecht.“
Als besondere Herausforderung betrachtet sie das Bagatellisieren der Opfer: „Viele sind mit den Belastungen durch den Missbrauch allein gelassen. Die Quote der Retraumatisierung ist hoch. Opfer können oft nicht einordnen, wann Grenzen überschritten werden und reagieren nicht. Missbrauch zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Biographien. Sie sind nicht fähig, das zu erkennen und zu formulieren.“
Für Julia von Weiler ein ganz eindeutiger Befund: „In der Beratung braucht es mehr kommunikative Sensibilisierung und DGS-Kompetenz! Deshalb stehen flächendeckende Angebote und eine tiefere Verschränkung der Institutionen auf der Agenda. Gleichwohl können wir auch jetzt hier schon etwas tun: Unsere Netzwerke stärken, verdichten und vergrößern!“
Für ein dennoch fröhliches Ende des ersten Konferenztages sorgt Okan Seese, der einzige taube Komiker, der auch für hörende Zuschauer auftritt – so die Selbstbeschreibung- mit seiner schrägen, frechen und selbstironischen Perfomance.
Mit einem Podium der besonderen Art startet der zweite Konferenztag: Moderiert von der hörbeeinträchtigten Moderatorin Tanja Bülter diskutierten so versierte Gäste wie Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Prof. Dr. Sabine Fries, taube Professorin für Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Landshut, Stephanie Raith Kaudelka von Sinneswandel und die taube DGS-Dolmetscherin Katja Fischer über die Frage, wie gut Aufklärung und Intervention für taube /hörbeeinträchtigte Jugendliche heute gelingt.
„Für Menschen mit Hörbehinderungen sind Aufklärung über Gewalt sehr wichtig, bisher aber leider sehr schlecht. Das Problem sind Desinformation, Verdrängung und mangelnde Informationen auf Websites, in TV-Beiträgen, Filmen oder auf Social Media. Täter haben einen sehr leichten Zugang zu ihren Opfern, die oft nicht wissen, wo die Grenzen verlaufen“, so das zentrale Statement von Katja Fischer. Ein aufgeklärtes Selbstbewusstsein schon frühkindlich zu verankern und Informationszugänge zu schaffen, wie mit Grenzüberschreitungen umzugehen ist, gehören für sie ganz klar auf die Agenda.
Das kann Sabine Fries nur bekräftigen, die in der mangelnden Ausbildung DGS-zertifizierter Multiplikatoren eine strukturelle Ausgrenzung erkennt. Ängste und Unsicherheiten schon im Kindergarten abzubauen, legen ihrer Ansicht nach, das Fundament für gelungenes Zusammenleben.
Aber Gebärdensprache ist nicht alles, gibt Stephanie Raith Kaudelka zu Bedenken, denn Fachkräfte benötigen auch sozio-kulturelle Hintergrundinformationen von Menschen mit Hörbehinderung. Von daher sei es wichtig, dass taube Menschen sichtbar sind und Gebärdensprache als Fremdsprache in Schulen anerkannt und wählbar ist.
Partizipation und Barrierefreiheit sind das zentrale Thema auch für Jürgen Dusel. Seine oberste Prämisse: „Wichtig ist es, die bürgerlichen Rechte auch leben zu können. Gleichberechtigte Teilhabe ist kein Akt der Nächstenliebe, denn Inklusion ist untrennbar mit Demokratie verbunden. Teilhabe und Vielfalt sind Pfeiler unserer Demokratie – darauf können wir nicht verzichten!“
Ein passendes Schlusswort und ermutigender Auftakt zum Barcamp mit allen Teilnehmenden der Fachkonferenz zu den Themen Vernetzung, Qualifizierung, Schutzkonzepte und interdisziplinäre Netzwerke. Für alle Arbeitsgruppen steht der Bedarf größerer finanzieller Investitionen für Personal sowie Entwicklung und Umsetzung neuer Konzepte ganz oben auf der Agenda. Pragmatismus ist aber auch angesagt: Vernetztes Denken und nicht das Rad neu erfinden gelten als wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Inklusion.
Mit einem call-to-action beschließt IID-Chefin Julia von Weiler die Konferenz: „Wir wollen und müssen hier noch viel lernen! Aufklärung und Prävention: Dahinter bleiben wir weit zurück. Darin müssen wir besser werden. Sexualisierte Gewalt hat durch die digitalen Medien eine ungeheure Dynamik erlebt, dem entgegenzutreten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“