Lars möchte weg von der Schule. Die dauerquatschende Lehrerin nervt, ständig Anforderungen aus allen Richtungen, was man alles soll. Was für ein Zirkus! Zirkus? Ja klar, das ist es, auf in den Zirkus! Auf seinem Weg dahin hat der siebzehnjährige Lars einige aberwitzige Begegnungen: An der Bushaltestelle, als er nach dem Weg fragt, kann Mamadou aus Ghana ihm nicht wirklich weiterhelfen. Vielmehr kommen immer mehr Leute und reden durcheinander, ohne sich zu verstehen. Die Szene entwickelt sich zu einem wahren „Sprach-Zirkus“. Schnell sucht Lars das Weite und begegnet in einem Toiletten-Häuschen jungen Menschen mit Maske, die er als Ladies anspricht. Ein Fehler?
Schnell entspinnt sich eine Debatte über Genderfragen, und ob geschlechtsspezifische Identitäten überhaupt so wichtig sind. Aber dieser Geschlechter-Zirkus ist nichts für Lars. So erlebt er noch ein paar kleine Abenteuer bis er endlich den heiß ersehnten „Circus Hoppenrade“ erreicht.
Der Film „Was für ein Zirkus“, weitgehend eigenständig konzipiert und umgesetzt, ist aber nur eines der künstlerischen Produkte, die in der Kunstwoche entstehen. Die knapp 20 Kinder und Jugendlichen aus zwei Wohngruppen freuen sich schon lange auf diese künstlerische Auszeit. Bereits auf der Fahrt stellt der achtjährige Horik aus Syrien klar: „Heute schlafen wir reich!“
In der Tat werden die Kids reich beschenkt! Die familiäre und liebevolle Aufnahme im Hause von Hardenberg ist außergewöhnlich: Alle rücken dort zusammen und machen Platz für die turbulente Gästeschar. Mit Namen beschriftete Zimmer, mit kleinen Goodies auf dem Kopfkissen und großer Wärme beginnt eine unbeschwerte Woche, in der die Jugend die erste Geige spielt.
Florenzia, das geniale argentinische Kochtalent, übernimmt die Küche und Donata, die Hausherrin, freut sich, in dieses bunte Treiben einzutauchen. Chapeau! Welch großzügige Freigabe des gesamten Refugiums. Auch das wertschätzende Interesse an jedem einzelnen scheinen selbstverständlich!
Silvie, seit 30 Jahren in der Jugendarbeit und Leiterin einer der Familienwohngruppen, ist ganz großer Fan: „Ich wünsche jedem Kind in der Jugendhilfe eine solche Kunstwoche! Sie öffnet Wege für uns Erwachsene im Alltag, im Zusammenleben und für die Jugendlichen sowieso. Sie sind danach ganz positiv und durchlässig. Oft macht sich das erst so richtig nach Wochen oder Monaten bemerkbar – aber dieser Push ist ganz klar durch diesen Input stimuliert. Gerade hier in Hoppenrade fühlen wir uns unglaublich willkommen. Eine große Einladung die alle berührt!“
Und das ist bitter nötig, den manche der Kinder haben in ihrem zarten Alter schon bis zu 50 Beziehungsabbrüche erlebt. Für sie ist diese uneingeschränkte Gastfreundschaft und Offenheit deshalb eine besondere Motivation: „Wir werden hier familiär integriert. Jeder Wunsch wird uns von den Lippen abgelesen und am Ende der Woche bedanken sich unsere Gastgeber sogar noch bei uns! Meine Freunde fragten mich, ob die irre sind, ihr Haus so zu öffnen. Wir haben einfach einen riesengroßen Vertrauensvorschuss, der in allen Beteiligten nur das Beste zum Vorschein bringt. Allein das ist für mich ganz persönlich schon eine beeindruckende Erfahrung“, stellt die versierte Wohngruppenleiterin Silvie fest.
Auch Betreuerin Silke ist fasziniert, wie sehr dieser wertschätzende und ermutigende Grundtenor von Gastgebern und IID-Team auf fruchtbaren Boden trifft und unerwartete Entwicklungen anschiebt: „Ein Mädchen in der vorangegangenen Kunstwoche hat immer alles abgelehnt. Wir haben uns wirklich aufgerieben und plötzlich öffnete sich ein Fenster, sie wollte Neues probieren, zum Friseur gehen, einen anderen Stil finden – all das nach der gemeinsamen Arbeit mit dem Künstlerpaar Paula und Chris. Die völlig unmittelbare Begegnung, die Unbeschwertheit, das gemeinsame Tun, die Gespräche – das löst enorm viel aus!“
So ist das auch gedacht, meint IID-Chefin Julia von Weiler: „Es kommt nicht darauf an, was hinten `raus kommt, sondern der Prozess ist das Entscheidende. Mit anderen Worten: Der Prozess ist der Prozess. Die gemeinsame künstlerische Arbeit öffnet ungeahnte Räume.“
Einmal im Jahr Achterbahn fahren, so fühlt sich Künstlerin Paula Bogati im turbulenten Ansturm der vier bis achtzehn Jährigen. Da heißt es Ruhe bewahren und jedem Kind individuell gerecht werden: „Meistens wollen ja alle gleichzeitig etwas von mir. Das ist schon ein erheblicher Kontrast zu meiner stillen Atelierarbeit, aber auch eine inspirierende Challenge. Für meinen Mann Chris Hartschuh und mich ist die Arbeit mit den jungen Menschen aber auch eine Bereicherung. Wir haben uns gegenseitig viel zu geben, bringen aus unterschiedlichen Lebensformen und Erfahrungshorizonten viele kreative Impulse ein. Vor allem lieben wir die Neugier und das gemeinsame Ausprobieren.“
„Absolut erstaunlich, wie kreativ die Kids werden und ihre Ideen umsetzen. Vor allem bei solchen, bei denen ich es nie erwartet hätte. Auf einmal sprudelt es und sie wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen. Diese Unbeschwertheit schafft Kapazitäten, ihre Phantasie in Kunst umzusetzen und es macht sie stolz zu sehen, was aus daraus so alles entstehen kann“, schildert Betreuerin Silke die therapeutische Wirkung.
Lediglich das thematische Gerüst für die Kunstwoche wird von den Künstlern vorgegeben, während die Kinder und Jugendlichen die inhaltliche Gestaltung entwickeln: Vormittags werden mit dem IID-Team Regina, Kalli und Leonie Tanz und Kunststücke geprobt. Der Filmdreh läuft nachmittags. Währenddessen arbeitet das Künstlerpaar Paula und Chris gruppenweise an der bildnerischen Gestaltung des Zirkus Settings. Und neben Florenzias knackig frischen und gesunden Mahlzeiten gibt’s dann noch fröhliche Abendaktivitäten wie Lagerfeuer, Schwimmen und Traktorfahren. Einfach ein nicht enden wollender Sommer auf dem Land!
„Das Projekt lebt von den besonderen Menschen und den besonderen Orten, wo wir sein dürfen. Ganz bewusst arbeiten wir in dieser Woche nicht mit Kunstpädagogen. Im Vordergrund steht hier die freie ungelenkte Begegnung mit kreativen und künstlerischen Prozessen. Wer lässt sich darauf lieber ein, als Vollblut Künstler oder Künstlerinnen. Für sie ist die Kunst Ausdruck ihres Seins. Sie stehen für ungewöhnliche Biographien, für eine andere Lebensgestaltung, für unkonventionelles Denken. Was oder wer ist schon normal? Mit Offenheit wollen wir uns aufeinander einlassen: Eine Woche in der wir sehen, wie die jungen Menschen aus sich herausgehen, unbeschwert und neugierig den gestalterischen Einstieg finden. Erlebtes über die Kunst verarbeiten oder einfach ihrer Phantasie freien Lauf geben. Gleichzeitig werden durch das spielerische gemeinsame Arbeiten Konzentration und Ausdauer gefördert“, so Julia von Weiler.
Das coole ist, dass die Kinder und Jugendlichen richtig viel schaffen und dann, wie Stars gefeiert werden. Was das mit ihnen macht, kann man unmittelbar erleben: „Die Haltung, die Ausstrahlung, das Engagement – das macht mich glücklich, denn ich sehe ein anderes, ein größeres Selbstwertgefühl als vorher“, resümiert Leonie, künstlerische Leiterin für Theater und Schauspiel in diesem Projekt. Als erfahrene Frontfrau in der Jugendhilfe weiß sie nur zu gut, wovon sie spricht: „Gerade für unsere Kids ist das enorm wichtig. Viele haben so einen schwierigen Hintergrund und ein extrem belastendes Umfeld, dass sie bedeutend mehr als andere Altersgenossen Anerkennung und Selbstwertschätzung benötigen. Was im Alltag schwierig zu erarbeiten ist, läuft hier easy. Wir sind in einem so positiven, freundlichen, hellen und ungestörten Umfeld! Das ist schon atmosphärisch ein völliger Paradigmenwechsel. Wir albern zusammen, haben Spaß und spielerisch entdecken wir die Stärken und Vorlieben, fordern unsere Kids heraus, sich etwas zu trauen. Dabei lernen sie, ihre Kunstwochenbeiträge in einem manchmal auch anstrengenden Prozess, Stück für Stück zu erarbeiten. Das klappt tatsächlich unglaublich gut. Alle engagieren sich für das gleiche Ziel: Die große Präsentation am Ende der Woche.“
Einen psychologischen Mehrwert bietet zudem das Setting: Den annährend paradiesischen Zustand. Untergebracht im Schloss oder im fast so schönen Feldbett, federleichtes Herumtoben zu Wasser oder zu Land, mit Lagerfeuer, viel Zuwendung, Zeit und köstlichen gesunden Mahlzeiten. Das öffnet Raum, weitet Wahrnehmung und ermöglicht Selbstvertrauen.
Den Gastgebern Donata und Julian von Hardenberg ist diese ganz praktische Unterstützung ein wichtiges Anliegen: „Wir leben hier sehr privilegiert und freuen uns, die Kunstwoche und generell Innocence in Danger zu unterstützen! Kinderschutz vor sexualisierter Gewalt ist ein großes und dringendes Thema. Wir hängen da als Gesellschaft meilenweit hinterher. Umso mehr ein Grund, unserem Anliegen eine Stimme zu geben. Und auch ganz praktisch zu unterstützen. Es ist erschütternd zu realisieren, wie viele Kinder und Jugendliche in schwierigsten Verhältnissen leben, wie unterversorgt und überfordert unser soziales System ist. Und was für eine herausragende Arbeit in Familienwohngruppen wie der von Sylvie und Heike geleistet wird.
Beim Umgang mit dem Smartphone zum Beispiel habe ich immer das Gefühl, den Kindern das Ding in die Hand zu drücken und viel Spaß zu wünschen, ist zu oft Standard bei Eltern und Erwachsenen. Wenn’s um’s Fahrradfahren oder den Führerschein geht, sind wir unglaublich protektiv, aber das Handy geht immer früher in Kinderhände. Der unerfahrene Zugang wird immer selbstverständlicher zugelassen. Auch das ein Thema, mit dem sich IID fachlich mit Erwachsenen, aber auch spielerisch und spannend mit jungen Menschen auseinandersetzt.
IID hat da einfach einen unglaublich guten Sound, auf solche Herausforderungen aufmerksam zu machen. Und wir müssen besser werden! Bereits 2008 verkündete Ursula von der Leyen, damals noch Bundesfamilienministerin, dass jedes von sexualisierter Gewalt betroffene Kind im Schnitt acht Erwachsene ansprechen muss, bevor ihm geglaubt wird! Besser ist es seitdem nicht geworden. So kann es also nicht weiter gehen“, stellt Donata von Hardenberg voll Energie fest.
Die vierfache Mutter ist seit 2017 auch Mitglied des Präsidiums von IID und unterstützt alle Aktivitäten, von Kunstwochen bis zu Benefizveranstaltungen. Aber ihre Kunstwochen-Gäste liegen ihr besonders am Herzen, denn es treibt sie um, wie unglaublich tapfer diese Kinder sind: „Bei uns stehen sie deshalb ganz klar an erster Stelle, sollen sich willkommen fühlen. Einfach freie Bahn haben. Wir bieten damit den Nährboden für Kreativität. Ideen entwickeln, gestalten, konzentriertes Arbeiten, durchhalten – diese Erfahrung des Schaffens ist ein enorm positives Erlebnis. Oftmals eine ganz andere Erfahrung für die Kinder als in der Schule! Wertschätzung und Anerkennung stärkt ihr Selbstvertrauen. Darum geht’s!“